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"Vati"

Als Kind fragte ich – wohl im April 1939 bei der Beerdigung "meiner" Oma, Bertha Lempka, der einzigen Oma, die ich als Kind noch gesehen habe, – nach den übrigen Großeltern. Vom Opa Lempka erhielt ich ausweichende Antwort: – "schon lange tot" – ……… ansonsten viel- oder nichtssagendes Schweigen ………

Ähnlich ging es mir bei Fragen nach Vati's Mutter - …… "schon früh verstorben".

Der einzige Beleg ist die Geburtsurkunde von Vati, erst 1925 ausgestellt anlässlich der Heirat mit meiner „Mutti“, der Emma Gutowski, geb. Lempka. Darin steht etwas von der "unverehelichten Wirthstochter Charlotte Gutowski". Von seinem Vater war nie die Rede.

Erst Anfang 2008 erfahre ich nach vergeblichen Briefen und abgelehnten Besuchsangeboten – "kein Interesse" – von der einzig verbliebenen Stief-Cousine väterlicherseits, Christel R., dass die "Lotte", die "unverehelichte Wirthstochter Charlotte Gutowski der Geburtsurkunde, also meine Oma väterlicherseits, am 11. Juni 1925 verstorben sei.

Jetzt besitze ich die Sterbeurkunde: Tatsächlich starb sie am 12. Juni 1925 - wenige Monate vor der Hochzeit meiner Eltern, Emma und Fritz Gutowski, – im Krankenhaus "Bergmannsheil" in Bochum – im Alter von 57 Jahren.

Was ich jetzt erst aus der Kindheit meines Vaters aus Büchern erfahren habe.

Hier Bilder aus der neuen Blindenanstalt in Königsberg, Luisenallee ab 1909

Ich hätte früher konkret fragen, Tagebuch führen und scheinbar mich gar nicht betreffende Briefe aufheben müssen. Vieles "damals" ein Kind tief Beeindruckendes bekommt heute im Nachhinein aus vager Erinnerung eine andere, neue Bedeutung.

Lasst mich deshalb bitte einen großen Sprung machen in die "innere Geschichte" meines Vaters, die für mich erst Mitte Mai des Jahres 1945 in damals nicht oder kindlich andersartig begriffenen Bruchstücken langsam sichtbar wurde und im Gedächtnis haften blieb.

⠋⠗⠊⠞⠵ ⠛⠥⠞⠕⠺⠎⠅⠊ - Fritz Gutowski in Blindenschrift

 

"Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege, des der den Himmel lenkt", spielt Vati auf dem frisch gestimmten Klavier auf dem Bauernhof in Obervorschütz, nach seiner allerersten Klavier-Stimmung nach Kriegsende 1945.

Als stände die Zeit still, verhalten die Familie des Bauern und die beiden DP's, die "befreiten" polnischen Zwangsarbeiter, wie von unsichtbarer, heiliger Hand berührt. Keiner sagt ein Wort; der große Jagdhund, der in die Stube gekommen ist, legt sich Vati zu Füßen, schaut zu ihm hoch und wedelt mit dem Schwanz; keiner weiß auch nur einen Gedanken zu formulieren. Die Bäuerin nur legt fast heimlich zu dem als Honorar fürs Klavierstimmen gedachten halben Brot noch ein Stück Hessische "aale Worscht".

Solches wird sich noch oft wiederholen, mit und ohne "aale Worscht" als hilflose Antwort auf ein soeben erfahrenes Geheimnis. Ein Engel, eine andere "Wirklichkeit", muss neben und um ihn sein – heute bin ich sicher, auch um uns; wir spüren es nur nicht; würden wir ihn – „es“ - sehen, wäre er, „es“, hier für uns verloren. Vom Dasein des Engels spüren nur Andere etwas, wir selbst nicht; Vati, der Blinde, hat „ihn“ auch noch nicht „gesehen“. Jener Engel lässt ihn – und uns - wohl nur leben, um Anderen spürbar zu werden. Vati hat aber einen ganz besonderen Engel. Bei Vatis Kundschaft geschieht "es" meist beim Spielen eines Chorals am Ende der Klavierstimmung. Dann kommt das Gespräch auf. Während des Dritten Reiches ist es vor allem ein Signal, dass man offen miteinander reden kann, was andernfalls böse Folgen haben könnte. "…… seit mehr als 30 Jahren hat der Heimgegangene nicht nur unser Instrument gestimmt – bei jedem Besuch wurden auch unsere Herzen wieder froh und dankbar, über den Segen, der von diesem innerlich so reichen Mann ausströmte. ……" heißt es in einem Kondolenzbrief 1963.

Doch jetzt erst noch einmal einen halben Tag zurück. Es ist der erste heiße Tag Mitte Mai 1945, die Kapitulation des "Dritten Reiches" ist erst wenige Tage alt.

Ich führe Vati auf der damals noch unbefestigten Straße, fast ein Feldweg, von Gudensberg kommend die 3 Kilometer zu seinem ersten "Auftrag" nach der Ausbombung am 28. Februar 1945 in einer noch gar nicht absehbaren neuen Zeit. Hinter uns, auf der von Marburg über Fritzlar nach Kassel führenden Straße lärmt ständig das Geräusch der immer noch ostwärts fahrenden Kolonnen amerikanischer Militärlastwagen. In der Luft singen unbeirrt Lerchen; es klingt, wie Vati sagt, als ob Spirgel gebraten wird.

Die sehr schwere Tasche mit den geretteten Klavierstimmerwerkzeugen kann er wegen einer unheimlich schmerzenden Nervenentzündung in den Armen kaum tragen, und ich, der noch nicht 11-Jähriger mache hilflose Versuche, die das Tragen nur noch erschweren. Er muss die Tasche absetzen. Er wendet sich ab. Ich soll seine tiefe Erschütterung nicht bemerken; es sind ganz andere "Tränen", als ich als Kind vorher gesehen hatte.

 

"………… wird es je wieder gut werden?"

 

Einundfünfzigeinhalb Jahre eines Blindgeborenen stehen hinter der Frage: Vordergründig die Ausbombung beim vorletzten Luftangriff auf Kassel am 28. Februar 1945 mit dem totalen Verlust alles bisher Erworbenen, Unterbringung in Gudensberg beim blinden "Schicksalskameraden", Esperantofan und „Bruder“ Georg Schröder, seiner immer keifenden Frau Mathilde und den – für mich damals – "kleinen" Kindern, vor allem dem unberechenbaren Karli. Das alles in einem kleinen baufälligen Haus, am – heute denkmalgeschützten – Marktplatz direkt unterhalb des Burgbergs, einem ständig nach Stock und entfernt auch nach der – angeblich jedenfalls – leeren Räucherkammer irgendwo nebenan riechenden Zimmerchen, in das nur zwei Betten, die Tür und ein kleines Fensterchen zum Höfchen passen.

Für mich war das kleine dunkle Höfchen direkt am steil aufwärts strebenden Burgberg mit dem Plumpsklo, den Würmern, dem „dabei“ zu lesenden Zeitungspapier und den Wasserbecken zum Einweichen der Weiden für den Korbmacher Schröder nicht so bedrohlich, wie der Luftschutzkeller in den zwei bis drei Jahren vorher in Kassel. Zudem konnte man mit den Kindern der Nachbarschaft vom Burgberg herab so schön um die Wette Weitpinkeln spielen - bis zu den Häusern. Bis die Amis kamen, war das übernächste Haus allerdings dafür tabu. Da wohnte der Ortsgruppenleiter. Nach dem Einmarsch war der Gefürchtete samt Familie natürlich getürmt. Aus Rache jetzt bis in seinen Hof weit zu pinkeln, auf den Gedanken kamen wir Kinder damals nicht. Wohl war auch das Unnahbare dieses Hauses nicht gewichen – und – weiß man, was geschieht, wenn "der" wieder das Sagen hat.

Vati sah ich zum ersten Mal bei Schröder mithelfen, Körbe zu flechten. Das hatte er in Königsberg in der Blindenanstalt neben Bürstenbinden und Stuhlflechten auch gelernt, um dort "sein Brot zu verdienen" - oder das des Herrn Direktors Augsut Brandstaeter, wie ich später berichten werde. Wenn wir den Kindern schon das Brot wegessen, ließ uns die Mathilde unverhohlen spüren, dann muss der Vati dafür auch arbeiten. Für mich bedeutete der Geruch nach Weiden in der Werkstatt nichts Erniedrigendes, aber für Vati ist es ein Fallen ohne Halt in eine Zeit, die er schon lange überwunden geglaubt hat. Ich „musste“ – dabei tat ich es gern – einen Festmeter Buchenholz hacken. Bloß waren die meisten Klötze total astig und für mich kaum, mühsam und langwierig zu zerkleinern. 

 Das Ende des 1000-jährigen Reiches hatte Vati ja schon erhofft. "Betet darum, dass der Krieg bald zu Ende geht", war einer seiner gefährlichen Sätze im Luftschutzkeller schon bald nach Stalingrad. Das frühe Durchschauen der menschenverachtenden Ideologie und das halbe – teilweise von eingeweihter Kundschaft unter vorgehaltener Hand erfahrene - und das noch geheime und unvollständige Wissen über die Verbrechen des "Deutschen Volkes" hatte dazu beigetragen. Dann kam am 28. Februar 1945 die Zerstörung des seit 1928 nahezu Selbstverständlichen, der Wohnung in Kassel, Berlepschstr. 4, III. Stock, durch eine Brandbombe direkt in unsere Wohnung beim vorletzten Angriff der Amis auf Kassel mit dem "und wohin jetzt" und vor allem "mit dem Kind"?

Hier in Gudensberg ist buchstäblich ALLES zusammengebrochen. Das bohrt und schmerzt noch tiefer als die Nervenentzündung in den Armen, die ja „nur“ körperlicher Reflex auf diesen Zusammenbruch ist.

Nun steht er 1945 wieder da, wo "es" angefangen hat.

Ich werde es nur so nach und nach aus Bruchstücken, Nebensätzen und Stoßseufzern erfahren. Erst heute fange ich an, es zusammen zu sehen und zu einem Bild vom Vater zusammen zu fügen:

Das Schweigen um seinen Vater, er, das uneheliche Kind, dann auch noch blind geboren, die Schande der Familie – d e r  m u s s  w e g ! – das wird er im späteren Leben noch zwei mal hören und kann nichts dagegen tun – die hilflose Angst vor dem "Herrn" des kleinen Dorfes Sdorren, die kurze Geborgenheit bei einem Lehrer, vielleicht Verwandten seiner Großmutter, einer geborenen Ruchay, im Nachbardorf Adlig-Kessel, das Abgeschobenwerden in die zu der Zeit korrupte im Jahr 1900 noch "alte" Blinden-Unterrichts-Anstalt" in Königsberg, die endlose Kette von Lieblosigkeiten und Demütigungen, aus seinem dreißigsten Lebensjahr eine bohrende und unbewältigte Schuld, bald darauf eine Ehe, die von ihm Dankbarkeit "für das Opfer" einfordert. Es wird noch sehr lange dauern, bis ich das sehe.

 

Da steht er nun auf dem Weg nach Obervorschütz als er das Kind fragt, fast aber mehr sich selbst:

 

"………… wird es je wieder gut werden?"

 

Dass wo immer er ist, bei seiner Kundschaft und vielerorts von ihm eine Wärme und Licht ausgeht, in seiner Gegenwart schwierige Sachverhalte klar, einfach werden, das gehört nicht zu seinem Selbstwertgefühl. Er erleidet nur, dass dieses Strahlen in seiner Ehe misstrauisch, eifersüchtig geneidet wird. 

 

"………… wird es je gut wieder werden?"

 

"Ja", sagt kindlich naiv an diesem wunderschönen Tag im Mai 1945 der noch nicht Elfjährige.

"Moi boze – mein Gott" seufzt der Vater – ich soll es noch oftmals hören, – und "psiakrew – verdammt", nimmt die schwere Tasche wieder auf, "gehen wir weiter nach Obervorschütz!"

"Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege, des der den Himmel lenkt." spielt Vati dann zwei Stunden später auf dem frisch gestimmten Klavier auf dem Bauernhof in Obervorschütz.

Das halbe Bauernbrot und das Stück "aale Worscht" ist der allererste Anfang in eine weiter ungewisse Zukunft. "Befiehl du deine Wege …………………

 
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