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Die Emma-Lempka-Story – zweiter Teil

Nach der Vorstellung der Lempka-Familie mache ich jetzt einen großen Sprung zur Nahtstelle der inneren Geschichte der Emma Lempka.

"Was sollen, was können in unseren Verhältnissen die drei jüngeren Geschwister werden", wird sich die Uroma Bertha Lempka sicher gefragt haben. Ob sich Uropa Paul Peter Lempka solches ernsthaft gefragt hat oder ob das kein Thema unter Bierkutschern war und ihm das Bier viele Fragen und auch Antworten erspart hat, kann ich nur aus Andeutungen schließen. "Der Richard hat sowieso seine eigenen Pläne aber ein Mädel muss einen anständigen, praktischen Beruf lernen, z.B. Schneiderin, den kann sie überall in Beruf und Familie gebrauchen", wird die Oma Bertha gedacht und gesagt haben.

Es ist das Jahr 1909, die Emma ist gerade 17 Jahre alt und im besten Mädchen- und Widerspruchsalter, da passiert der Unfall. Den Vater Paul Peter erwischt beim Abladen von der von Pferden gezogenen Bierkutsche ein volles Bierfass. Er lebt zwar noch, aber im Krankenhaus kann man den Leberriss nicht flikken. Der Ernährer der großen Familie ist nicht mehr. "Der lag ja meist mehr unter als auf der Bierkutsche", so – angeblich – ein bitterer Satz der Oma Bertha.

Der Opa Paul Peter Lempka, - katholischer Religion – im Jahr 1909 wohnhaft in Berlin-NO, Gollnowstr. 32 – oder zuletzt: Heinersdorferstr. 24 – muss nun beerdigt werden. Die Oma Bertha ist evangelisch. Berlin hat 228 Friedhöfe, davon 118 konfessionelle meist evangelische, auch 9 katholische Friedhöfe, im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg sind 14 nur evangelische Friedhöfe, der zur ersten mir bekannten Wohnung im Jahr 1892, der Bergmannstr. 18, nächstgelegene[1] ist der Dreifaltigkeits-Friedhof II, der ist evangelisch, südwestlich, die Mechtfesselstr. aufwärts auf dem 66m hohen Kreuzberg befindet sich damals noch die Schultheiß- (oder eine andere) Brauerei, bei der Peter Lempka gearbeitet haben „könnte“, östlich der Friedhof, genauer die Friedhöfe.


[1] Diesen Abschnitt habe ich geschrieben, bevor ich von den mindestens fünf und mehr Wohnungswechseln der Lempkas wusste. Ich lasse ihn aber so stehen, a) weil mir die Suche nach gerade diesem Friedhof so viel Freude gemacht hat, b) darauf oder auf dem benachbarten 1928 Paul Reiner beerdigt wurde und es für diese "innere" Geschichte überhaupt unwesentlich ist, wo Opa Lempka nun tatsächlich beerdigt wurde.

 

Die Friedhöfe am Mehringdamm[1] gehören zu den bemerkenswertesten Berliner Begräbnisstätten.

Hier am Mehringdamm handelt es sich um den Kirchhof der im Kriege zerstörten Dreifaltigkeitskirche, an der der Theologe Schleiermacher predigte, und um den der Bethlehemskirche, die Kirche der in den 1730er Jahren nach Berlin geflüchteten Böhmen. Außerdem befinden sich hier die alten Kirchhöfe der Neuen Kirche und der Jerusalemskirche sowie der Brüdergemeine. Diese fünf Kirchhöfe wurden im achtzehnten Jahrhundert vor dem Halleschen Tor angelegt, da Bestattungen innerhalb der Stadtmauern nicht mehr erlaubt waren. 

 

Hier sind durchaus auch berühmte Menschen bestattet: Adalbert von Chamisso, E.T.A. Hoffmann, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Ernst Schering, Carl von Siemens, Martin Gropius Adolf Glaßbrenner, Rahel Varnhagen von Ense, Heinrich von Stephan und Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff beerdigt.

(Später werden auf einem direkt daneben liegenden Friedhof ebenfalls fast alle Mitglieder einer Familie, von der in dieser Geschichte noch zu berichten ist, beerdigt – habt bitte Geduld, das kommt ein Kapitel weiter.) 

Also, wenn dem so ist, warum dann nicht auch den Opa Paul Peter Lempka hier beerdigen[1]. Nun muss die Oma Bertha also zur Dreifaltigkeitskirche, den zuständigen Pfarrer suchen, Friedrich Schleiermacher ist leider schon seit 1834 tot. Nun aber Spaß beiseite und ich will mir vorstellen und Euch versuchen weiterzugeben, wie es um die "Kirche" und um das Kirchenvolk so um 1909 stand.

In Berlin und erst recht in ganz Preußen ist "man" evangelisch; evangelisch sein ist in damaliger Zeit eine nicht ganz nebensächliche Form der Kaisertreue; ist man aber ausnahmsweise oder zufällig „leider“ katholisch, so ist man sicher aus Bayern oder einer anderen rückständigen Provinz hierher verschlagen worden; Toleranz bis zu einem gewissen Grade ist auch eine der preußischen Tugenden. Ist "man" aber – oder die ganze Familie – aus der Kirche ausgetreten, ist man gewiss Sozialdemokrat oder noch schlimmer Kommunist, würde aber zumindest als ein Solcher verdächtigt. Der Opa ist zwar katholisch – woher kommt er wohl, Schlesien? – hat aber einen Militärpass, der weist ihn ausreichend als kaisertreu aus, soweit also gut.

Aber sonst? Glaube? – JA, dumme Frage – und Gedanken bei einer Beerdigung? Das Danach?

Die Oma muss also zum Pfarrer und zur Dreifaltigkeitskirche. Allein wird sie nicht gegangen sein; ich unterstelle einmal, dass sie die Emma mitgenommen hat. Kirche ist nämlich etwas, das in der Familie eine zwiespältige Rolle spielt; sie ist eine Institution für die Privilegierten, die Bessergestellten, Beamten "und so". "Man" ist rein formal Mitglied einer Kirche, hat aber dazu keine innere Beziehung. Damit lässt man sich besser auch nicht konkret ein. Die Lempkas gehören einer anderen bestimmten sozialen, wirtschaftlichen Schicht an, die es auch heute nach wie vor gibt, bloß dass dieses Fehlen einer inneren Beziehung heute nicht nur die Arbeiterschicht allein betrifft. Man lebt in einem geistigen oder seelischen Milieu, ein Bezirk, aus dem man sich nicht ungestraft entfernen kann.

Gut, die Emma ist also – wie alle – getauft, zur Konfirmandenstunde gegangen, ist vor 3 Jahren konfirmiert worden; viel Geschenke, Kaffee und Kuchen wird es bestimmt nicht gegeben haben, genau wie bei den Geburtstagen der Emma jedes Jahr, ausgerechnet am Heiligabend, 24. Dezember. Das ist im traditionellen Vorweihnachtstrubel – Heiligabend ist ja letzter Arbeitstag "vorm Fest", dieser letzten Ahnung von "Christ-sein" – immer untergegangen; dieses Trauma hat die Emma ein Leben lang begleitet. Psalmen, Bibelverse und Lieder hat sie aber schon im Konfirmandenunterricht "aus"-wendig gelernt – sie kann schnell lernen und wunderschön aufsagen – aber "in"-wendig hat sie nie eine innere Beziehung zum Inhalt und zu "DEM", von dem dieser Inhalt handelt, aufbauen können, es betrifft sie nicht, warum auch. "Die Kirche" oder ihre zum Wohnort gehörende Kirchengemeinde, hier z.B. die Dreifaltigkeitskirche mit ihrem wenigstens früher einmal bedeutenden Theologen Friedrich Schleiermacher ist weder für sie noch die Eltern und Geschwister "Heimat" noch ein Teil des Lebens der "Familie". Das hat auch seinen Grund im Befund aller Kirchen in Deutschland und besonders in Preußen am Ende des 19. Jahrhunderts.

Der Kaiser hat die Funktion eines obersten Bischofs der Kirchen. Er baut und erhält die Kirchen und bezahlt die Pfarrer. Das "Evangelium", das der Pfarrer zu verkünden hat, ist Maßstab und Garant für den Erhalt dieser christlich-kaiserlichen Ordnung, sonst nichts. Anders ausgedrückt: Die Einhaltung dieser kaiserlich-christlichen Ordnung hat Vorrang vor der Gesamtheit der biblischen Botschaft.

Was die Oma und die Emma im Jahr 1909 also geschäftsmäßig beim Pfarrer bei der Anmeldung zur Beerdigung und der Trauerfeier selbst hört, ist der praktische Vollzug einer fest gefügten Ordnung. Eine "persönliche Beziehung" zu Gott, ein das ganze praktische Leben und dann auch das Sterben bestimmender Glaube ist hier nicht gefragt.

Der Tod des Vaters im Jahr 1909 aber, das was die Leute so unter vorgehaltener Hand von seinem Leben und erst recht jetzt seinem Tod tuscheln, wie die Mutter und die Geschwister schnell zur Tagesordnung übergehen, der große Bruder seine Pläne unbeirrt weiterverfolgt, bohrt in ihr und bringt sie zum Nachdenken – doch zu diesem Zeitpunkt – wahrscheinlich – ohne Ergebnis.


[1] Nun weiß ich inzwischen durch die Suche in den alten Berliner Adressbüchern, dass die Lempkas mindestens sieben Wohnungsstationen durchlaufen haben, davon die Lempkas die Bergmannstraße wahrscheinlich nur als eine zweite, vorübergehende Wohnung als "Untermieter" und dass sie auch noch die Wohnungen 1898 Kleine Frankfurterstraße und 1904/1907 in der Gollnowstr., dann die Heinersdorferstr. bewohnt haben, lasse aber diesen Absatz – weil er als literarischer Gag so "schön gewesen wäre“ – unverändert.

 

Einstweilen muss alles seinen Lauf in einer nun jetzt auch noch ärmer gewordenen Familie weiter gehen. Die Untermiete in der Wohnung Bergmannstr. 18 – ob vorne zur Straße oder eher in einem der Hinterhöfe ist nicht mehr zu ermitteln – haben sie längst verlassen, die Oma hat irgendwann zwischen 1892 und 1903, bestimmt aber 1898 – da wird sie im Adressbuch erwähnt – mit einer Grünkramhandlung im Keller des Hauses Kleine Frankfurter Straße das Brot der Familie verdient und auch gewohnt, dort sind 1898 und 1899 die beiden Geschwister Helene und Carl geboren, ab 1904 finde ich den Brauereiarbeiter Paul Lempka in der Gollnowstraße, lt. Sterbeurkunde dann noch die Heinersdorferstraße als sein letzter Wohnort. 1909 und 1910 finde ich keine Lempkas in Berliner Adressbüchern. 1911 bis 1913 ist die Ww. Bertha in C25, Prenzlauer Straße zu finden. Erst 1914 finden sie mitten in der Stadt, nahe dem Alex eine billigere Wohnung im dritten Hinterhof der Haupt-Paketpost in der Neuen Königstraße 70 – heute, Karl Liebknechtstraße. Nach dem Krieg stand dort kein Haus mehr.

Der Richard hat sich spätestens 1912 selbstständig gemacht, im Oktober 1913 hat er geheiratet; ob und was er verdient, weiß niemand und er behält es auch für sich. Gut also dass die Emma jetzt wenigstens einen anständigen Beruf einer Schneiderin gelernt hat. Das bringt damals vielleicht wenigstens etwas zum Leben. Gut auch für später, denn da hat sie zwei Generationen Gutowski und viele andere darin nicht so geschickte Freunde und Bekannte benäht. Einen wunderbar warmen "Sträflings"-Schlafanzug mit Schalkragen und zwei aufgesetzten Taschen ziehe ich heute noch gerne an. Die Helene muss nun auch schnell denen Beruf als Kürschnerin lernen und der Karl geht noch zur Schule.

Aber am Milieu und dem familiären Umgang ändert sich dadurch nichts. Richard, lässt alle den feinen Pinkel spüren, Helene/Lenchen ist schnell mit dem Mundwerk und genauso schnell beleidigt, der Kleene, der gutmütige – (mein lieber Onkel) - Karl lässt alles mit sich geschehen – und – allzu helle isser och nich. 

In dieser Zeit etwa, eigentlich schon im Sommer 1908, steht in Berlin ein Zelt in der Weserstraße, in der Nähe des Hermannplatzes. "Zelt-Mission Immanuel, Öffentliche Vorträge jeden Tag nachmittags 4Uhr und abends 8Uhr" steht auf dem Zelt. Der Zeltmissionar, der die "Vorträge" hält, ist Heinrich Grossmann.

In das Zelt, gleich einem Zirkuszelt, in das mindestens 400 bis 500 Menschen passen, strömen Tag für Tag viele Menschen, und Abend für Abend werden es mehr; wer einmal kam, kommt am nächsten Tag wieder. Sie erleben eine für sie so ganz andere und

neue Welt des Glaubens. Sie möchten, mit Heinrich Grossmann als Führer, eine eigene Gemeinde gründen.

Sehr bald, am 9. Oktober 1908, kommt es zur Gründung der "Christlichen Gemeinde Berlin S" mit 68 Mitgliedern. Sie mieten in einem Fabrikgebäude in einer Hauptstraße von Berlin SW oder Berlin-Neukölln, der Urbanstraße 93, einen Versammlungsraum. Heinrich Grossmann steht dem Baptismus sehr nahe und so wird man Mitglied nur aufgrund eines klaren Bekenntnisses und durch die Taufe. Finanziell lebt die Gemeinde von freiwilligen Beiträgen bei Selbsteinschätzung des Gemeindebeitrages. Bald zählt die Gemeinde 120 Mitglieder. Zur Predigt kommen aber viel mehr, so dass der Raum bald zu klein wird. Sie müssen ihn erweitern, sodass er 600 Personen fasst.

Auf dem Bild steht - direkt links neben der Säule - ein Mann, der im weiteren Verlauf der Emma-Lempka-Story,

dem zweiten Teil des Bruchs im Leben der Emma, eine wichtige Rolle spielt, Paul Reiner.

Ob die "Nürnberger Oma" und vormalige Emma Lempka schon im Sommer 1908, etwa ein Jahr vor dem Tod ihres Vaters schon die "Vorträge" in diesem Zelt gehört hat, und wie schließlich die große Wende oder genauer der erste Teil eines Bruchs im Leben der Emma geschieht, auch wann genau – in den vier Jahren zwischen 1908 und 1912 - ist bis heute unbekannt und wird wahrscheinlich auch unbekannt bleiben. Am 3. März 1912 jedenfalls ist sie - mit 19 ¼ Jahren - als Mitglied Nr. 364 getauft worden und in die Gemeinde eingetreten.

Das was hier im Jahr 1909 in Berlin, in vielen anderen Teilen Deutschlands und schon viel früher in den Industriezentren Englands und den USA gleichzeitig mit dem Erwachen der Arbeiterbewegung aufbricht, ist ein Teil der Erweckungsbewegung[1] innerhalb des reformatorischen Christentums[2]. Viele Menschen suchen nach einem lebendigen Christentum, nach einer persönlichen Antwort auf den Ruf des Evangeliums[3] zu Umkehr[4] und geistiger Erneuerung. Gewöhnlich entstanden sie als Reaktion auf ein Christentum, das als dogmatisch fixiert, liturgisch erstarrt oder rein verstandesbetont empfunden wurde.

Der Zeltmissionar – er meidet den Raum der etablierten Kirchen und wird auch kaum hereingelassen – predigt radikale Umkehr, fordert die Bekehrung[5] des Einzelnen und gibt Hilfen für eine praktische christliche Lebensweise in neu entstehenden eigenen Gemeinschaften. Gemeinchristliche oder konfessionelle[6] Dogmen[7] sowie rationales Verstehen treten zunächst dahinter zurück; in der Praxis vertritt der Prediger eigene biblische Erkenntnisse, die sich später dann doch auch zu einer "Lehre" mausern.

Erweckungsbewegungen sind keine Randerscheinungen, sondern Massenbewegungen: Die Erweckungsbewegungen des 18. bis 20. Jahrhunderts haben jeweils zu einem starken Anwachsen der engagierten Christen in der Bevölkerung geführt. In manchen Fällen wurden dabei Kirchenferne angesprochen, in anderen Fällen Kirchenmitglieder ohne innere Beteiligung. Beispielsweise gab es in England innerhalb von 50 Jahren 75.000 Methodisten[8], in den Vereinigten Staaten[9] wuchs ihre Zahl von 500 im Jahr 1771 auf 15.000 im Jahr 1784. Das 19. Jahrhundert begann in den Vereinigten Staaten mit 7 Prozent der Bevölkerung als Mitglied einer Kirche - hundert Jahre später waren es über 40 Prozent. Die Pfingstbewegung[10] in Brasilien war 1960 praktisch bedeutungslos, heute umfasst sie 25 Prozent der Bevölkerung.

Ein wesentlicher Faktor bei vielen Erweckungsbewegungen ist die Predigt[11], die im 18. und 19. Jahrhundert oft auf freiem Feld stattfand und Massen von Kirchenfernen anzog. In Deutschland ist es die Zeltmission. Im Amerika des zwanzigsten Jahrhunderts spielten manche Fernsehprediger[12] eine ähnliche Rolle.

Der Zeltmissionar Heinrich Grossmann ist nur ein ganz kleiner Teil dieser ganzen Bewegung. Er steht ursprünglich den Baptisten[13] sehr nahe. Aber für die einzelnen Menschen, die er "für Christus gewinnt", ist er eine nahezu absolut unbestrittene Autorität. Gleichzeitig ist er die integrative Person, die aus Menschen, die aus der Vereinzelung kommen – eben wie die Emma Lempka, in eine lebenslang prägende Gemeinschaft führt.

 

In der Emma Lempka-Story ist das Vorhergehende natürlich ein Sprung von drei oder vier Jahren und ich greife dem Ablauf der äußeren und inneren Geschichte damit schon vor. Deshalb bitte ich Euch auch hier Geduld beim Lesen und lasst mich bitte erst einmal der Reihe nach das aufschreiben, was ich so nach und nach und auch zuletzt auf meiner Berlinreise (25. bis 31. April 2008) erfahren habe und was mich davon selbst betrifft. Im Jahr 1908 findet also in Berlin die beschriebene Zeltmission[14] statt. Sie ist Teil der christlichen Erweckungsbewegung[15], die vor allem im 19. Jahrhundert sich weltweit ausbreitet.

 

 

 

Heinrich Grossmann (*08.07.1879 † 29.09.1958) ist zunächst nur einer der von Ort zu Ort in Deutschland reisenden Zeltmissionare. Er ist ein begabter Redner mit einem ungewöhnlichen Charisma, das die Menschen anzieht und begeistert. Vor allem ist das, was er zu sagen hat so grundlegend anders, als es die Menschen aus den Kirchen kennen.

"Es geht gar nicht um das »für wahr halten« dessen, was in der Bibel steht!" – das steht für den Zelt-Evangelisten sowieso ohne jede Frage fest. "Die ganze Heilige Schrift", ruft der Zeltmissionar den Zuhörern immer wieder zu, Altes und Neues Testament, und sonst nichts ist allein maßgebend und Richtschnur für dein Leben! Alle Überlieferungen und Traditionen der Kirchen können nicht "dein Leben ändern".

Heinrich Grossmann in späteren Jahren

"Du musst dich für Jesus entscheiden; das ist die Wende, die Umkehr, die Bekehrung, Dein neues Leben in und mit Gott", ist seine Botschaft."

Was es mit der "Zeltmission" und speziell der "Christlichen Gemeinde Berlin S" als ein Teil einer weltweiten christlichen Erneuerungsbewegung auf sich hat, will ich hier nicht aufschreiben. Ich empfehle Euch, einige Web-Seiten aus Wikipedia[1] oder auch im beigefügten Anhang zu lesen. An dieser Stelle möchte ich Euch aber schildern, warum und wie ich mich – ursprünglich selbst zu den Baptisten gehörend – aus diesen Gemeinden und ihrer Theologie gelöst habe.

Im Laufe unserer 2000-jähringen Geschichte hat nahezu unbemerkt ein gravierender Wechsel des Weltbildes unserer "westlichen Zivilisation" stattgefunden. Wir fühlen uns nicht mehr als untergeordneter und zugleich in ihr geborgener und behüteter Teil der "Patscha mama", der letztlich unbegreiflichen Welt des Schöpfers, sondern beginnen – statt ganzheitlich – nun deduktiv und induktiv, halt wissenschaftlich, von uns als dem "Mittelpunkt des Denkens" auf "Gott und die Welt" zu schließen.

Dies hat zugleich einen Wechsel der "Sprache" zur Folge. Die bilderreiche, aus den Mythologien des Altertums und des vorderen Orients der vorchristlichen Zeit kommende "Sprache", die von den Schreibern vor allem des Alten Testaments neu gedeutet und prall gefüllt ist, also die "Sprache" des Alten und Neuen Testaments verstehen – und deuten - wir leider nicht mehr oder höchst unvollkommen wie eine Fremdsprache.

Im "Kopf" – und damit auch im Wort- und Begriffsschatz der Theologie - sprechen wir heute die "Sprache" des Rationalismus und der Aufklärung – und der damit verbundenen politischen Systeme.

Das führte im 19. Jahrhundert und bis in unsere Tage zu dem großen Hunger nach Anderem, Unmittelbarerem. Das Fatale ist bloß, dass – und nun bleibe ich beim Thema Erweckungsbewegung – dass alle Theologie, eben auch die der Freikirchen, sich weiterhin der "Sprache" des Rationalismus und der Aufklärung bedienen. Das führt damals und heute bei vielen Evangelikalen[2] und fundamentalistischen Christengemeinschaften – siehe auch die Entwicklung der "christlichen" Curricula in den Schulen der USA mit den Kampagnen gegen die Evolutionslehre – dazu, dass man die Bibel wortwörtlich als von Gott und dem Heiligen Geist inspiriert, quasi diktiert – Stichwort Verbalinspiration[3] – "gläubig annimmt". Demnach ist die Welt vor ca. 4.000 Jahren in exakt 7 Tagen Jahren entstanden[4].

 

So leben wir heute allgemein in einer "Sprachlosigkeit" gegenüber dem Geheimnis Gottes[1].

Praktisch zeitgleich mit dem Wachsen der Erweckungsbewegungen – außerhalb der etablierten Kirchen - geschieht nun in der Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts eine ganz parallele Erscheinung. Felix Mendelssohn-Bartholdy entdeckt in der vergessenen Bachsche Matthäuspassion auch eine vergessene – wenn auch „nur“ barocke – "Sprache" wieder, komponiert selber große Kirchenmusik und bedient sich dabei nahezu ausschließlich der unkommentierten, "reinen" Bibeltexte, eine Generation später ebenfalls Johannes Brahms in seinem Requiem.

In ihrer Musik finden sie eine verloren geglaubte – z.B. bei Heinrich Schütz z.T. noch vorhandene – "Sprache" wieder, die bis heute – bei uns wenigstens – die Fähigkeit, das "Geheimnis Gottes" unter dem Musizieren und "Hören" zu erfahren, unmittelbar anspricht. Und auch hier werden deren Kompositionen – zumindest im 19. Jahrhundert – nur außerhalb der etablierten Kirchen in Konzertsälen aufgeführt, von den evangelikalen "Frommen" allerdings, die ein eigenes aus dem englischsprachigen Raum überkommenes ich-bezogenes Heiligungs- und Heilslied entwickelt haben, leider argwöhnisch abgetan. Werden die "großen" Kompositionen von Mendelssohn und Brahms heute in Kirchen aufgeführt, dann geschieht dies nicht etwa im Namen einer erneuerten Form der "Mission" in einer gottlos gewordenen Welt sondern hauptsächlich nur aus Gründen der Kulturpflege oder der Repräsentation – wichtig ist, was am nächsten Tag in der Zeitungskritik steht.

 

Doch nun zurück zur Emma Lempka und zu ihrer Wende erster Teil:

Am 13. März 1912 lässt sie sich taufen und wird als Mitglied Nr. 364 der Gemeinde gläubig getaufter Christen, die formal "Christliche Gemeinschaft Berlin S" in der Urbanstraße heißt, und sich dann später in "Evangelisch – Freikirchliche Gemeinde Berlin SW e.V. Hasenheide" umbenennt und zu Anfang den Baptisten nahe steht, aufgenommen.

Drei Wochen früher – die spannende Frage, ob das nun für die Emma-Lempka-Story und die nachfolgende dritte "Fritz-und-Emma-Gutowski-Story" wichtig ist oder nicht, kann ich immer noch nicht genau beantworten – ist die Emma Kurzke sen. am 5. Februar 1912 mit der Mitgliedsnummer Nr. 360 in die gleiche Gemeinde Urbanstr. "eingetreten".

Ursprünglich wohnte die Familie Kurzke auch in Berlin-Kreuzberg, Vater Wilhelm Kurzke wollte nicht mehr "Buchbinder" (Fassung 1) bzw. abhängiger "Buchhalter" (Fassung 2) sein und hat 1903 in Strausberg bei Berlin ein Tante-Emma- oder Kolonialwaren-Lädchen übernommen oder aufgemacht. Deren Tochter Margarete Kurzke – 11 Jahre jünger als die Emma – wird zur lebenslangen Freundin der Emma, erwachsen aus gemeinsamer Erfahrung und "Glauben": diese Freundschaft hält ein Leben lang.

 

 

Heinrich Grossmann Berlin will wieder verlassen, um an

              Kurzkes vor dem Laden in Strausberg            anderer Stelle die Zeltmission weiter zu führen. Sie

bitten ihn dringend, in Berlin bei ihnen zu bleiben. Er bleibt[2]. Es entsteht durch ihn eine "Personal-Gemeinde". Ein Fabrikgebäude in der Urbanstr. 93 ist bald gefunden und wird gemietet, 1930 wird dann ein Grundstück in der "Hasenheide" gekauft – so heißt die Straße am gleichnamigen Volkspark in Berlin-Neuköln und bald heißt auch die Gemeinde bei den Mitgliedern "die Hasenheide" - und sie wächst und nimmt zu an wachsender Mitgliederschar und innerem Zusammenhalt.



[1] Mystērion war im antiken Griechisch ein religiöses Geheimnis – nicht im Sinn einer zurückgehaltenen Information, sondern im Sinn einer Vergegenwärtigung der Gottheit, die tiefer und höher reicht als Worte aussprechen können. Es bedeutete geistige Wirklichkeit und Kulthandlung zugleich, in untrennbarer Verbindung; so im Mithraismus und anderen das frühe Christentum umgebenden Kulten.

[2] Erst 1923, nach einer viermonatigen Evangelisationsreise durch die USA (März bis Juli 1922) wandert Grossmann mit seiner Familie nach den USA aus und beginnt in New York 6 Jahre lang eine neue Gemeindearbeit und kehrt 1929 nach Berlin zurück.

 


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